Strassenkunst – was ist das?

Der Begriff umfasst alle Formen (künstlerischer) Darbietungen im öffentlichen Raum*.

*Da sich Strassenkünste (und der öffentliche Bereich) in steter Entwicklung und Wandlung befinden, schliesst diese Definition neue Stile oder Modelle nicht aus, die in der Folge als Strassenkunst betrachtet werden können.

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Andere Definitionen:

„Mit dem Begriff „Strassenkunst“ umschreibt man im allgemeinen künstlerische Ereignisse die ausserhalb eines Theaters, Konzertsaales, Museums usw. stattfinden – auf Strassen, Plätzen, am Flussufer, in einem Bahnhof oder Hafen ebenso gut wie einer Industriebrache, einem sich im Bau befindenden Gebäude oder in den Kulissen eines Theaters. Einzelvorstellung oder monumentale Inszenierung, bewegt oder mit fester Vorrichtung, Protestparodie oder zauberhaftes Zwischenspiel, Gestaltung und Herausforderung sind vielfältig, die künstlerischen Ausdrucksformen begegnen und vermischen sich.

Sich in die städtischen Gegebenheiten (ländliche Gebiete zählen auch dazu) einfügen, hat entscheidende Auswirkungen auf das künstlerische Angebot. Die Stadt ist ein freier aber auch beschränkender Raum. Rein physisch betrachtet, ermöglicht er, den Spielraum zu wählen, mit dem Umfeld zu spielen. Andererseits ist man Lärm, Stau, Verkehr und Betrieb, sowie der Witterung ausgesetzt. Sozial gesehen, richten sich die Darbietungen sowohl an informierte Zuschauer wie zufällig Vorbeigehende, an ein aufgeklärtes oder „jungfräuliches“ Publikum. Es ist deshalb wichtig, sich auf geteilte Gefühle und gemeinsame kulturelle Grundlagen abzustützen. Und institutionell hat die öffentliche Ordnung Toleranzgrenzen und die lokalen Behörden haften für den Ablauf.“
http://www.ruelibre.net

„An die tausend Künstlertruppen bilden derzeit den Strassenkunstsektor … die Strassenkünste zeichnen sich durch eine Vielzahl von Formen und künstlerischen Ansätzen aus. Auf volkstümlichen Traditionen beruhend, aber auch getragen durch die Suche nach zeitgenössischen Modellen künstlerischen Schaffens, ist Strassenkunst ein empfindlicher Raum schöpferischen Experimentierens, dadurch dass sie den öffentlichen Raum besetzt und Kunsterfahrung der klassischen Orte in Frage stellt. Dieser Wille bringt es mit sich, dass auch die Beziehung zum Publikum neu erfunden werden muss, ausserhalb der Verhaltensregeln eines geschlossenen Theaters.“
http://www.culturecommunication.gouv.fr

Und was noch …?

Ein wichtiges Charakteristikum dieser Kunst ist die Multidisziplinarität. In der Tat umfasst Strassenvorstellung Theater, Musik, Zirkus, Tanz, Oper, plastische Künste usw. Diese „Kunstform“ wird durch den Ort, an welchem gespielt wird, umschrieben, und nicht durch die Kunstgattung (Theater, Tanz, Musik, usw.) an sich. Das Ausüben der Strassenkunst hebt auch die Beziehung zum Publikum hervor. „Über das reine Vergnügen einer Vorstellung hinaus, beinhaltet das Vorgehen eine politische Dimension im wahrsten Sinne des Wortes: Das Leben der Stadt betreffend.
(Quelle: Journal Culture Enjeu, l’Art et la Ville, N°38, 2013 S.17).

Tatsächlich besteht der grosse Unterschied zwischen einem Strassenspektakel und einer in einem Theater oder Saal gespielten Vorstellung in der Beziehung zum Publikum und der dadurch entstehenden Nähe. Auf der Strasse stehen sich Künstler und Publikum direkt gegenüber, während sich der Künstler im Theater meist nicht auf derselben Ebene befindet wie das Publikum, nämlich auf der vom Zuschauerraum getrennten Bühne. Zudem sieht der Schauspieler das Publikum oft nicht, da es sich im Dunkeln befindet. Kurz, die Strassenkunst zeichnet sich durch die enge Beziehung zwischen Künstler und Publikum aus.

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In der Zeitung TDC findet sich eine interessante Definition der Strassenkünste (sie bezieht sich auf das Publikum in Frankreich, das jedoch nach meiner Erfahrung nicht sehr verschieden vom Publikum in der Schweiz ist): „Seit vierzig Jahren da es die Strassenkunst in ihrer modernen Form gibt, führt die Besonderheit ihrer künstlerischen Ausdrucksform zu zahllosen Debatten. Wie soll man sie umschreiben? Durch die Beziehung zum Raum, zu dessen Architektur, Menschenstrom (Fussgänger- und Autoverkehr), Bräuche und Benutzer? Durch die Beziehung die sie zum Publikum herstellt, das sie im Idealfall „in seinem Alltag überrascht“ sehen möchte, und nicht in einem bequem hergerichteten, störungs- und insbesondere lärmfreien Raum? Durch die Zusammensetzung des Publikums, das als „das heterogenste“ gilt, während Umfragen ergeben, dass die Mehrzahl der Zuschauer die Strassenkunst, ohne sie besonders abzugrenzen, zur (manchmal langen) Liste ihrer kulturellen Gewohnheiten zählt und damit auch anspruchsvoller ist? Es ist unmöglich, eine genaue Definition zu wagen ohne allzu vereinfachend zu sein, denn Strassenkunst ist all das in einem.“
(Quelle: Journal TDC, Les Arts de La Rue, 2012, S.10)

Strassenkunst ist schwer definierbar, da sie enorm viele verschiedene Aspekte umfasst, bezüglich Raum, Ort, Beziehung zwischen Künstlern und Publikum, Organisation usw.

Zur Geschichte der Strassenkunst in der Schweiz und jenseits der Grenzen

Strassenkunst oder Kunst im urbanen Umfeld geht in der westlichen Welt auf das Altertum und das Mittelalter zurück, als (religiöse und weltliche) Vorstellungen im Freien und öffentlichen Raum stattfanden. Verschiedenster Herkunft, konnte man sie weltweit antreffen. Obwohl sich die Tradition dieser Künstler, seien sie nun Musiker, Jongleure, Akrobaten usw., nie verlor, breitete sich die Bewegung in den 70-er Jahren aus, der kulturellen Entwicklung und den gesellschaftlichen Veränderungen dieser Epoche folgend. Gleichzeitig strukturierte sich die Strassenkunst durch die Schaffung von Organisationen, Festivals und Künstlertruppen.

In Frankreich versuchten Künstler, als Folge der Dezentralisierung, ein neues Publikum zu gewinnen, und dort aufzutreten, wo ihnen niemand Befehle erteilt.

Strassenkünste, vorerst noch „Strassentheater“ genannt, entstanden in Frankreich vor ca. 40 Jahren, rund um das Event “La Falaise des Fous”. Ein Dutzend loser unstrukturierter Künstlergruppen treffen sich im französischen Jura und starten das erste Festival.

40 Jahre später gibt es in Frankreich über 1500 Strassenkunst-Companien, 500 entsprechende Veranstaltungen, ein speziell zugeteiltes Budget des Kulturministeriums, die „Cité des arts de la rue“ und eine professionelle Ausbildung (FAI-AR) mit Sitz in Marseille, Literatur zur Geschichte der Strassenkünste, universitäre Kurse, usw. Diese multidisziplinäre Entwicklung ist zu einem unübersehbaren Element der kulturellen Landschaft Frankreichs geworden.

Was tut sich in der Schweiz in diesem Bereich?

Beinahe nichts! Wobei das Beinahe entscheidend ist.

Lange Zeit haben Künstler in der Schweiz gleichermassen auf der Strasse oder in Sälen und Galerien gespielt. Oft wurde die Frage nach dem Ort durch den Sinn der Darstellung bestimmt. Die Strasse war eine Szene unter anderen, wenn auch wenig benutzt.

Während vielen Jahren erlebte der Asphalt „nur“ Automaten, Statuen, mehr oder weniger begabte Musiker oder mehr oder weniger bettelnde Künstler.

Kleine Ausnahme: Das Living Theatre spielte während den 70er-Jahren mehrmals in schweizerischen Strassen: Es kam zum Skandal und schliesslich gestatteten lediglich Basel und La Chaux-de-Fonds die Aufführung einer seiner Kreationen.
1968 – Performance des Living Theatre in Mailand. Quelle: Wikipedia.

Source: wikipedia
1968 – Performance du Living Theatre à Milan. Source: wikipedia

Für das Living Theatre ist das Spiel in der Strasse ein Mittel, alle Menschen zu erreichen, den politischen Dialog fortzuführen und zu verbreiten, um eine grösstmögliche Anzahl zu erreichen. Weitere Künstler haben diesen Ansatz bis zu Beginn der 80er-Jahre versucht.

Das erste Strassenkunst-Festival in der Schweiz war 1971 ein in Lausanne stattfindendes Fest, heute unter dem Namen „Festival de la Cité“ bekannt. Das bedeutet, dass in der Schweiz beidseits des Röstigrabens seit ca. 30 Jahren herausragende Künstler und Festivals anzutreffen sind, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den öffentlichen Raum zu erforschen.

Karls Kühne Gassenschau taucht mit einem hervorragenden Programm auf. Es wird ihr in der Folge angeboten, in Steinbrüchen aufzutreten und das wunderbare Ergebnis ist bestbekannt.

Die Cie de danse DA-Motus (Fribourg) etabliert sich um dieselbe Zeit und führt seitdem grundlegende Studien zu Körper und Bewegung im öffentlichen Raum durch. Diese Tänzer sind derzeit weltweit auf Tournee.

Der Buskers Festival Neuchâtel entsteht Ende der 80-er-Jahre.

Anfangs der 90er-Jahre werden mehrere Festivals fast gleichzeitig aus der Taufe gehoben: La Plage des Six Pompes, das Festival des artistes de rue de Vevey, usw.
Gewisse Events, wie das Festival in Vevey, finden in Einkaufsstrassen statt, mit dem Zweck, mehr Käufer in die Läden zu locken.
Die Plage des Six Pompes entstand aus dem Bedürfnis einer Stadt, der Bevölkerung die sich im Sommer keine Ferien am Strand leisten kann und sich langweilt, eine Abwechslung zu bieten.

Dank den engen historischen und kulturellen Verbindungen von Rockszene und Strassenkunst wurden grenzübergreifende Brücken geschlagen. So pflegen z.B. die freiwilligen Helfer des Konzertsaales Bikini Test in La Chaux-de-Fonds Kontakte zu Les Abattoirs  (Rock-Konzertsaal in Chalon-sur-Saône). Les Abattoirs und die Stadt Chalon veranstalten eines der inzwischen grössten und bedeutendsten Strassenkunst-Events (Chalon dans la rue).

Dank diesen musikalischen Beziehungen profitierte La Chaux-de-Fonds von einem in der übrigen Schweiz inexistenten Netzwerk und entwickelte sein eigenes Festival. Nach und nach schafft auch das Paléo Festival eine Strassenkunst-Szene, und investiert beträchtliche Mittel für Infrastrukturen.

Etwas später startet Orbe seinen Tag der Strassenkunst, desgleichen Delémont anlässlich des traditionellen Volksfestes.
Zur gleichen Zeit stellt die Familie Dimitri ihr eigenes Festival auf die Beine, das bislang einzige südlich der Alpen.

Anfang 2000 wurden in der Schweiz einige Companien gegründet. Künstlertruppen die international bekannt werden! Die aus Genf stammende Fanfare Legroup tourte 10 Jahre lang mit ihrem Musik-Terrorismus in Europa. Das Jongleur-Duo Les Somnifères sprengt die Grenzen des neuen Zirkuses, um sich dem absoluten Dadaismus zuzuwenden; die beiden Zirkusartisten treten in der ganzen Welt auf. Die Batteurs de Pavés, frischgebackene Schüler des Konservatoriums Lausanne, passen klassische Texte dem heutigen Geschmack an, was ihnen unzählige Tourneen in Frankreich und Belgien und natürlich in der Schweiz beschert.

Die Expo 02 lud im Jahr 2002 zahlreiche Strassenkünstler für verschiedenste Vorstellungen ein. Das Théâtre de l’Unité wurde z.B. durch den Kanton Jura eingeladen, ihre berühmte Arte-plage mouvante (die weisse Welle!) zu gestalten. Hunderte von weissgekleideten freiwilligen Helfern überschwemmten die Stadt Neuchâtel.

Das Ereignis hinterliess einen so starken Eindruck, dass der Kanton Jura später die Stiftung Cours de Miracle gründet, mit dem Zweck, Strassenkunst-Kurse zu erteilen. Ein weltweit einzigartiges Projekt!
Diese Künstler sorgen für Zuwachs und 2010 gründen einige unter ihnen die FARS (Fédération des Arts de la Rue Suisses – Vereinigung der Schweizer Strassenkünste), die automatisch Mitglied einer europäischen Vereinigung wurde, und die Unterstützung ihrer grossen französischen Schwester und der kleinen deutschen Kusine geniesst.

Zwei Jahre später kreiert die FARS in Vevey die erste RueLibre in der Schweiz. Vevey ist die erste Stadt in der Schweiz, welche die Planung einer „Strassenkunst-Saison“ wagte. (RueLibre ist ein weltweites Event anlässlich des Internationalen Tages der Strassenkünste).

Heute kann die Schweiz den Anspruch erheben, über eine wahrhafte „Strassenkunst-Szene“ zu verfügen, städtisch oder in städtischem Umfeld. Es gibt inzwischen an die 15 Festivals und gut 20 professionelle Künstlertruppen.

Strassenkunst-Festivals in der Schweiz

Was ist ein Strassen-Festival? Ein Festival bestehend aus Darbietungen der oben erwähnten Disziplinen (Theater, Musik, Zirkus, Tanz, plastische Künste, usw.). Man kennt verschiedene Programmgestaltungen: Die einen bieten vor allem Strassenmusik, wie das Buskers in Bern oder Neuchâtel (wobei beide vereinzelt auch Strassenkünste programmieren), andere wie die Plage des Six Pompes bevorzugen das Strassentheater, andere wiederum, wie das Festival de la Cité, bieten ein buntes Gemisch.

In der Schweiz sind Strassenfestivals im allgemeinen eintrittsfrei, für jedermann zugänglich und ziehen ein Publikum aller Alters- und Bevölkerungsgruppen an. Sie sind nicht einer Elite reserviert. Gespielt wird im öffentlichen Raum, doch ist dieser Begriff sehr weitläufig und umfasst „Klippen und Strassen, Keller und Einkaufszentren, Felder und öffentliche Toiletten, Fahrzeuge und Wohnungen … es handelt sich bevorzugt um einen Durchgangsort, wo der Künstler den potentiellen Zuschauer in seinem Alltag überraschen kann.“ (Quelle: Stradda, Nr.6, 2007, www.rueetcirque.fr)

Künstler die an diesen Festivals auftreten, sind im allgemeinen professionelle Künstler, die nicht nur an Strassenkunst- oder Strassenmusik-Festivals spielen. Sie können ohne weiteres z.B. in einem Theater, einem eintrittspflichtigen Festival oder ganz einfach auf der Strasse auftreten, unabhängig von einem speziellen Event.

Strassenkunst-Festivals sind in der Schweiz selten, rund zwanzig und die meisten finden in der Romandie statt. Eine sehr kleine Zahl, verglichen mit Frankreich, wo die Vereinigung Hors les Murs 342 Festivals aufführt (Quelle: Hors Les Murs, Association nationale pour le développement des arts de la rue et des arts de la piste)

Anerkennung der Strassenkünste in der Schweiz

Auch heute noch geniesst diese Kunstform in der Schweiz nicht dasselbe Prestige wie andere Künste.

Der Grund dafür ist zweifellos in der Tatsache zu suchen, dass die Strassenkünste durch die schweizerischen Institutionen noch nicht als eigenständige Kunstdisziplin anerkannt werden. Es ist zum Beispiel nicht möglich, an einer Hochschule oder Universität ein Diplom in diesem Kunstbereich zu erhalten, während dies für Musik, Theater, Malen, usw. möglich ist.
Im Gegensatz dazu gibt es in Frankreich eine höhere Fachausbildung, die FAI AR (Formation Avancée et Itinérante des Arts de la Rue), ein der Kreation im öffentlichen Raum gewidmetes Ausbildungszentrum in der Cité des Arts de la Rue in Marseille. Es handelt sich um die erste, mobile Hochschulbildung in Frankreich (und in Europa) und um die ersten Praktikumsangebote für professionelle und werdende Strassenkünstler. Diese Ausbildung hat kein entsprechendes Gegenstück in der Schweiz.

Zudem besitzen die grossen subventionierenden Institutionen (z.B. Pro Helvetia) keine diese Kunstform berücksichtigende Kategorie, die demzufolge nicht unterstützt wird wie zum Beispiel Musik oder Theater. Um nochmals mit Frankreich zu vergleichen: Das erste nationale Zentrum für Strassenkünste, Lieux Publics, wurde 1983 gegründet (Quelle: 4 stradda, n° 6, octobre 2007, vu sur www.rueetcirque.fr, vu le 03.01.2014). In der Schweiz existiert seit 2012 die FARS, die Fédération des arts de la rue en Suisse, die auf dem französischen Modell gründet und sich um die Anerkennung der Strassenkünste in unserem Land bemüht (Quelle: [1] Rue Libre, http://www.ruelibre.net, vu le 03.01.2014).

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